Mein Anlaß für dieses Buch liegt in der aktuellen Gegenwart, in Beobachtungen auf die Jubelfeier zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer. Feierlichst am Brandenburger Tor begangen, unter Lichtdomen à la Speer. Die Eventmanager ließen sich was einfallen. Sie soufflierten einen Jubelschrei: »Wir sind das glücklichste Volk der Erde!« Alle brüllten. Ich war vermutlich nicht der einzige, dem die reziproke Analogie zu denken gab. Überglücklich? Jetzt vielleicht. Doch hatte eben dieses Volk nicht ein anderes zum allerunglücklichsten Volk der Erde gemacht?
Anders war das alles an dem gleichen Tag in Charlottenburg: Auf allen Stolpersteinen brannten still die Kerzen. Man hielt betreten inne, man verstummte. Das war die Macht der leisen Töne. Schweigen herrschte auch in den deutschen Massenmedien. Aber anders: Sie verschwiegen, daß der Tag des Mauerfalls auch der Tag des Pogroms von 1938 war. Dieses Schweigen wollte ich durchbrechen.
Es war eigentlich kaum denkbar, sich innerhalb eines einzigen Jahres einen umfassenden Überblick über die Ereignisse vom November 1938 zu verschaffen. Realistisch wären drei oder vier Jahre Arbeit und Recherche. Doch man soll genau das tun, was alle für unmöglich halten.
Astrid Köppe tat es. Sie tat es mit der ihr eigenen Geduld und Sorgfalt, indem sie aufgrund der Liste zerstörter deutscher Synagogen mit den örtlichen Archiven, so vorhanden, Kontakt aufnahm. Mit insgesamt rund 1200 Archiven, Gemeinden, Vereinen und Privatpersonen. Fast alle antworteten, einige Hundert lieferten verwendbares Material, Texte und auch Fotos. Wolfgang Benz half mit sehr wertvollen Hinweisen und Empfehlungen.
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Dieses Buch ist somit nicht zuletzt auch das Verdienst der Mitarbeiter in den Archiven. In Betracht zu ziehen ist, dass es sich bei vielen Sammlungen durchaus nicht immer um aufwendig organisierte Institute handelt. Zuweilen besteht ein Archiv aus einem ehrenamtlichen Helfer, der das zu bewahren sucht, was von dieser Schadtat überdauert hat.
Textauszüge aus Pogrom 1938, Michael Ruetz
Pogrom 1938 Buch-Innenseite 68-69
Kassel – Zerstörte jüdische Geschäfte nach dem 9.11.1938
© Stadtarchiv Kassel, 0.516.404, Foto: Carl Eberth
Der Unterhaltungswert des Pogroms war keineswegs gering. Die Zuschauer sammelten sich zu hunderten. Ein Schauspiel, für das man keinen Pfennig zahlen mußte. Gezahlt wurde später. War es 1938 ein jüdisches Geschäft, was da in Schutt und Asche lag, so war es 1944 die Stadt Kassel. Mein ist die Rache, spricht der Herr.
Pogrom 1938 Buch-Innenseite 54-55. Ludwigshafen– Zerstörte Synagoge.
© Stadtarchiv Ludwigshafen am Rhein
Sachkundige, ordnungsgemäße Vernichtung eines Gotteshauses. Man geht gründlich und mit Sorgfalt vor. Hernach posiert man mit dem Werkzeug, Spitzhacken und Vorschlaghämmern.
Pogrom 1938 Innenseite_110-111.
alle Abb.: Ludwigsburg – Zerstörung der Synagoge am 10.11.1938 © Stadtarchiv Ludwigsburg, Vorlage Nicole Beck
Als erstes brennt man alles nieder. Zum Schluß reißt man die Mauern ein. Ein Pferdefuhrwerk wartet auf die Trümmer.
Pogrom 1938
156 Seiten, erschienen 2018,
NIMBUS. Kunst und Bücher AG, Zürich
In Zusammenarbeit mit Astrid Köppe und Kathleen Blume.
Mit freundlicher Unterstützung der Akademie der Künste, Berlin.
Das Buch wurde von der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste sowie einem privaten Sponsor finanziell ermöglicht. Die Autoren und der Verlag danken herzlich.