Wie lassen sich Zeit und Vergänglichkeit sichtbar machen, wie Veränderungen in der Gesellschaft, in der Landschaft oder im Stadtraum dokumentieren? Wie kaum ein anderer Künstler hat sich Michael Ruetz in seinem fotografischen Werk mit diesen Fragen beschäftigt. Seit Mitte der 1960er-Jahre beobachtete er in einer großangelegten fotografischen Studie den vor allem vom Menschen verursachten Wandel natürlicher und urbaner Lebenswelten.
Die Veränderungen in Berlin und anderen Orten in Deutschland und Europa hielt Ruetz in einer Folge von Fotografien fest. Entstanden ist daraus ein monumentales Werk, dem sich der Fotokünstler über einen Zeitraum von fast sechzig Jahren widmete und das heute mehr als 600 Serien mit tausenden von Aufnahmen umfasst. Er hat seinen Bilderfolgen den treffenden Namen Timescapes gegeben, ein Kunstwort, das keine direkte deutsche Entsprechung hat und die Begriffe von Zeit und Landschaft verbin-det. In dem dreiteiligen Projekt dokumentierte Ruetz unterschiedliche Metamorphosen von Personen und Interieurs („Facing Time“, seit 1990), der Landschaft („Die absolute Landschaft“, 1989-2012) und der urbanen Umwelt („Eye on Time“, 1966-2023). Dabei wechselte er unmerklich von der analogen zu digitalen Fototechnik. Eines blieb aber immer gleich und wurde zum zentralen Konzept seiner ,Zeitlandschaften‘: Standort und Sichtachse des Fotografen. Nur die zeitlichen Intervalle der Bilderserien werden flexibel bestimmt, eine Ausnahme bildet die Serie „Facing Time“, bei der auch Positionen der Per-sonen, Aufnahmeort sowie Ausrichtung der Kamera variieren.
Im Mittelpunkt der Ausstellung „Poesie der Zeit. Michael Ruetz – Timescapes 1966-2023″ stehen die Timescapes von Berlin und seiner Umgebung. Michael Ruetz hat früh erkannt, dass sich die deutsche Hauptstadt in besonderer Weise eignet, den tiefgreifenden Wandel der deutschen Gesellschaft zu dokumentieren. Seine Heimatstadt wurde zu einem der wichtigsten Schauplätze seiner Bilderserien. In Zeitsprüngen zeigt er den Wandel der Stadt anhand architektonischer Veränderungen in Nachkriegszeit, Wiedervereinigung und Gegenwart und macht so Zeit spürbar. ,Das steinerne Berlin‘ ist für den Fotokünst-ler auch eine Metapher für Urbanisierungsprozesse in der gesamten westlichen Welt.
Hier geht es um die Wandlung der urbanen Umwelt infolge menschlicher Einwirkung.
Die Metamorphose der verhältnismäßig kleinen Metropole Berlin – bis 1989 gedrosselt, nach 1989 überschleunigt – ist eine sehr prägnante Parallele zur weltweiten Wandlung urbaner Konglomeration (Ruetz, 2022). Ruetz‘ Bilderfolgen faszinieren und frappieren zugleich. Sie faszinieren durch die kluge und weitsichtige Auswahl der Schauplätze und die besondere Ästhetik, die sich abseits dokumentarischer Nüchternheit entfaltet. Und sie frappieren: Zum einen, weil man immer wieder daran zweifelt, ob die im Zeitraffer gezeigten Veränderungen wirklich an ein und demselben Ort stattgefunden haben und zum andern durch ihre politische Aktualität. In einer Zeit existentieller ökologischer und sozialer Krisen sind Ruetz Berliner Timescapes ein eindrücklicher Beleg dafür, dass Stadtentwicklung und Städtebau, die auf Einreißen und Neubau setzen, keine Zukunft mehr haben dürfen.
Für die Präsentation der „Poesie der Zeit“ gibt es keinen besseren Ort als den Pariser Platz.
An diesem Brennpunkt deutscher Geschichte wird in besonderer Weise deutlich, wie die Brüche und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ihre Spuren in Topografie und Gebäuden eingegraben haben. Dort vor der französischen Botschaft entstand im August 2023 das letzte Bild, mit dem der Fotokünstler die Timescape-Sequenz 162 und damit auch sein monumentales Werk abgeschlossen hat. Und schließlich befindet sich am Pariser Platz 4 die Akademie der Künste, der Michael Ruetz seit 1998 als Mitglied angehört.
Die Timescapes und ihr umfangreicher dokumentarischer Apparat gehen in das Michael-Ruetz-Archiv der Akademie der Künste ein und ergänzen den Vorlass des Fotokünstlers und Chronisten. Neben den berühmten Bildern aus der APO-Zeit, die wie das Bildnis von Rudi Dutschke inzwischen zum kollektiven Bildergedächtnis zählen, gehören dazu auch die privaten Aufnahmen von Joseph Beuys oder das schriftliche Material des, Essayisten mit der Kamera‘ (Rolf Sachsse), wie die minutiös geführten Tagebücher und die Reflexionen zu künstlerischen oder politischen Themen. Wir schätzen uns glücklich, dass Michael Ruetz die Akademie der Künste ausgewählt hat, um seinem Werk eine künstlerische Heimat zu geben.
Werner Heegewaldt
Direktor des Archivs der Akademie der Künste
Bilder aus Die Poesie der Zeit
Die Poesie der Zeit
2024
194 Seiten. 320 x 440 mm, handgebunden, aufwendig gedruckt, 44,- €
Bestellungen/Vertrieb: Bücherbogen am Savignyplatz GmbH, Berlin
Mit einem Vorowrt von Werner Heegewaldt, Direktor des Archivs der Akademie der Künste.
Dreisprachig.